29.01. — 16.08.2020 | Beletage

Und Hasen, Hasen schneit es fort, Millionen jede Stund’

Disteli-Dialog mit Hans Peter Litscher

Nachdem Hans Peter Litscher im Spätherbst 1962, noch nicht trocken hinter den Ohren, Martin Distelis «Tollem Jäger» von 1838 ausgesetzt worden war, soll er jahrelang an einem «Hasentrauma» gelitten und immer und immer wieder von Alpträumen heimgesucht worden sein, in denen blutrünstige Hasenrudel zähnefletschend bei Vollmond über ihn herfielen, bis er jeweils, im Morgengrauen, in Angstschweiss gebadet aus dem Schlaf aufschreckte.

Erst «Herr Doktor» Jean Christophe Ammann, der Distelis Bild im Kontext der 68er-Unruhen als «Aufstand der Hasen» deutete, Litscher Zugang zu geistesverwandten «aufständischen Hasen-Begeisterten» der «documenta V» in Kassel verschaffte und Litschers «Manabozho I» & «Manabozho II» in den frühen 1970er-Jahren im Kunstmuseum Luzern präsentierte, ermöglichte es dem Geplagten, sich von seinem «Hasentrauma» zu befreien.

Zur Seite gestanden haben Ammann bei diesem Befreiungsschlag – selbstverständlich – Harald Szeeman und eine Unzahl «hasensolidarischer» Künstlerinnen und Künstler wie Jean-Michel Basquiat, Joseph Beuys, Joseph Cornell, Marianne Eigenheer, Meret Oppenheim, Sigmar Polke, Dieter Roth, Margret Rufener, Paul Thek und Young Voss, deren einstmals revolutionäre «Leporidiana» nun erstmals im Kunstmuseum Olten in Litschers Überblick unter dem Motto «Lepophiles of the Universe Unite» zu sehen sind.

Dr. Iris Grünacker-Janowitz, Lago di Garda, Ende April 2019  weiterlesen


Seit 2012 lädt das Kunstmuseum Olten im Rahmen des Formats «Disteli-Dialog» in loser Folge Kunstschaffende dazu ein, sich aus zeitgenössischer Perspektive mit seinem Gründungsbestand, dem Nachlass des ebenso virtuosen wie kämpferischen Schweizer Zeichners und Karikaturisten Martin Disteli (1802–1844), auseinanderzusetzen. Die bisherigen Dialoge wurden gestaltet von Com&Com, Ernst Thoma, San Keller und Monica Germann & Daniel Lorenzi. Die fünfte Ausgabe liegt nun in der Händen des Innerschweizer Weltbürgers, Künstlers, Kurators, Autors, Theatermachers, Filmers und Performers Hans Peter Litscher (*1955). In Stans geboren und aufgewachsen, lebt er seit 1975 grösstenteils in Paris und Luzern.

Ausgehend von Distelis «tollem Jäger» entwickelt Hans Peter Litscher eine stark autobiographisch gefärbte Ausstellung, die eine kunsthistorisch und geistesgeschichtlich konnotierte und zugleich sehr persönliche Ikonographie des widerständigen, bösen Hasen vorschlägt. Sie gründet auf der Beobachtung, dass böse, revolutionäre Langohren besonders seit den 1960er-Jahren bei vielen Künstler*innen eine wichtige Rolle spielen, etwa bei Jean-Michel Basquiat, Josef Beuys, Annette Messager, Meret Oppenheim, Sigmar Polke, Dieter Roth oder Paul Thek.

Auch Litschers Eintritt ins Kunstsystem erfolgte 1971 im Kunstmuseum Luzern mit einer Hasen-Installation, womit er sich unter der Schirmherrschaft von Jean Christoph Ammann ins Epizentrum des damaligen Kunst- und Ausstellungsbetriebs mit Protagonisten wie Harald Szeemann und anderen katapultierte.

Die zahlreichen Werke der international bekannten Künstler*innen, die Litscher für das Oltner Projekt ausleihen konnte, spiegeln diesen Umstand ebenso wider wie seine besondere Fähigkeit, Geschichten zu sammeln, zu erzählen und mit vorhandenen und neuen Wirklichkeiten zu vernetzen. So sind die Technik der Collage oder Montage und die Verbindung von Text und Bild wichtige Instrumente in Litschers künstlerischer wie kuratorischer Arbeit. Entsprechend wird sich auch die Ausstellung selbst als eine Art Wunderkammer seltsamer Hasengeschichten präsentieren.

Performative Führungen

Hans Peter Litscher ist ein genialer Netzwerker, begnadeter Geschichtensammler, Erzähler und Performer, der historische Begebenheiten und Wahrheiten stetig neu beleuchtet und ab und an auch neu erfindet. Um die Vielschichtigkeit seiner Ausstellung und den Reichtum der darin ausgelegten Fährten und Bezüge ansatzweise durchdringen zu können, bietet er regelmässig öffentlichen Führungen durch sein Hasen-Universum an. Als eigentliche Performances sind sie integrierender Bestandteil der Ausstellung und vermitteln einen aufschlussreichen, anekdotischen und sehr persönlichen Innenblick auf die Umbrüche in der Kunstszene nach 1968.

Videopostkarten

Während dem Lockdown hat Hans Peter Litscher zwei Videopostkarten aus der Ausstellung verschickt, in denen er unterschiedliche Aspekete seines Universums darlegt.

Video / Ton: Aufdi Aufdermauer + Karin Wegmüller,  videocompany
Performance und Konzept: Hans Peter Litscher
© Hans Peter Litscher, Aufdi Aufdermauer, Karin Wegmüller

Die Kurzvideos sind auf vimeo verfübar:

Publikation

Die von Hans Peter Litscher selbst in der Form einer «Zeitung» konzipierte und realisierte Publikation zur Ausstellung mit dem programmatischen Untertitel «Begreifen, wie der Hase läuft» erschliesst und erinnert das Hasen-Universum über einen Essay des Künstler-Kurators, eine komplette Liste der Exponate und Ausstellungsansichten.

Bezüge zur Ausstellung «Rendezvous»

Gemeinsamer Ausgangspunkt für die Schau von Peter Litscher und die parallel gezeigte Ausstellung «Rendezvous. Kostbarkeiten aus den Sammlungen der Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts und des Kunstmuseums»  ist der vom Museum gehegte Nachlass des widerständigen Zeichners und Karikaturisten Martin Disteli (1802–1844). Die Künstler*innen seiner Generation strebten – wie die Künstler*innen der 68-Generation – nach einer Reformation von Leben und Kunst.

Verschiebung / Lockdown

Die ursprünglich für 2019 geplante Ausstellung musste wegen einer politischen Blockade des städtischen Budgets von Olten auf Anfang 2020 verschoben werden. Kaum eröffnet, wurde die Ausstellung Mitte April durch den Lockdown zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie für rund zwei Monate in einen Winterschlaf versetzt, anschliessend aber über den Sommer hinein verlängert. Um unter den erschwerten Pandemie-Bedingungen trotzdem Führungen anbieten zu können, produzierte das Museumsteam eine exklusive Schutzmasken-Edition mit Bösem-Hasen-Sujet.

Künstler*innen

Hans Peter Litscher (*1955)

Geboren wurde der Künstler, Kurator, Autor, Theatermacher, Filmer und Performer 1955 in Stans. Aufgewachsen ist er in der Innerschweiz, wo er das Kollegium Sankt Fidelis in Stans besucht hat. Nach der Matura 1975 übersiedelte Litscher nach Paris. Seit einigen Jahren hat er auch wieder eine Wohnung in Luzern.

Nach ersten Ausstellungen bei Jean Christophe Ammann im Kunstmuseum Luzern anfangs der 1970er-Jahre folgten Studienjahren an der Theaterschule Jacques Lecoq in Paris, an der Universität Sorbonne und bei Gilles Deleuze an der Université de Vincennes. 1976 zeigte Litscher seinen ersten Film «Changes» im Centre Pompidou, 1983/84 wurde seine erste eigene Theater-Produktion, «Palermo ou Jérusalem», am Théâtre National de Chaillot in Paris, bei La Mama E.T.C. in New York sowie im ICA London und in München aufgeführt.

Seither hat Litscher auf der ganzen Welt – oft in Zusammenarbeit mit bekannten Protagonisten ihres jeweiligen Fachs – in zahlreichen grossen und kleineren Theatern, Opernhäusern und Museen, auf Festivals und Messen oder fürs Radio Projekte realisiert, die Aufführung, Ausstellung und Performance zugleich waren. In seiner Arbeit fügt Litscher – häufig anhand einzelner fiktiver Lebensläufe – Faktisches und Imaginäres zu Inszenierungen vermeintlich glaubhafter Schicksale zusammen. Die Helden seiner Geschichten, in der Regel Künstler*innen, leben alleine für ihre Obsessionen, an denen sie nicht selten tragisch scheitern. Litscher ist ein passionierter Geschichtensammler und -erzähler, der die Realität mit anderen Mitteln – zwischen Dichtung und Wahrheit – auf höchst vergnügliche Weise weiterschreibt.  weiterlesen


Einige Projekte (Auswahl):

  • 2017, Erlesenes Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern
  • 2015/16, Et in Lucerna ego, Hochschule Luzern – Musik, Historisches Museum Luzern
  • 2014, Goethes Zebra, Allgemeiner Konsumverein Braunschweig in Zusammenarbeit mit dem Festival Theaterformen Hannover/Braunschweig und dem Kunstfest Weimar
  • 2011, Con Garbo nei Grigioni (Performance/Theater), Theater Chur, Klosters, Samedan
  • 2003/2004, À la recherche d’Eleonora Duse et du poil roux de son kangourou, Centre culturel Suisse, Paris, Espace d’arts contemporains, Genf, Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm
  • 2002, Hommage à Antonin Artaud, Kooperation mit Cathrin Pichler, Museum Moderner Kunst, Wien
  • 2002, Potemkinsche Dörfer, Festival Theater der Welt, Bonn, Köln, Düsseldorf et Duisburg
  • 2000/2001, Terpsichores Wiener Wunderkammer / Et in Andorra ego, Ausstellung über Laura Wolff uns ihre Bedeutung für den Ausdruckstanz in Wien, Tanzquartier – Museumsquartier, Wien, Expo 2000 Hannover
  • 1999 Do Chinese Postman ring twice too?, The Kitchen, New York, im Rahmen des Festival New Europe
  • 1998, Die Lesemaschine von Henry von der Weyd, Ex Libris Helvetia, Schweizer Auftritt an der Buchmesse Frankfurt a. M.

Mit Werken von

Joseph Beuys, Adolf Dietrich, Martin Disteli, Shao Fan, Douglas Gordon, Pierre Klossowski, Annette Messager, Meret Oppenheim, Jason Rhoades, Dieter Roth, Margret Rufener, Hans Schärer, Paul Thek u.v.m.

Ansichten

Mitmachen

Hasenlismete mit der Direktorin


Beteiligen Sie sich an unserer Challenge und stricken Sie Ihren eigenen bösen Hasen!

… einen, der es leid ist, brav Ostereier zu bemalen
… einen, der selbst zum Jäger wird und seinen Verfolgern nachsetzt
… einen der klar macht, dass die Verhältnisse auch anders sein könnten
… einen, der weiss, wie der Hase läuft

Momentan sind die ungezählten aufbegehrenden, wütenden, bösen und revoltierenden Hasen, die der Künstler-Kurator Hans Peter Litscher in seinem Disteli-Dialog «Und Hasen, Hasen schneit es fort, Millionen jede Stund’» vereint hat, in der Dunkelheit des Museums eingeschlossen und dort ihrer Wirkungsmacht beraubt. Die Protagonisten von Litschers labyrinthisch verästelter, bezugsreicher Erzählung über die Kunst und das Kunstsystem seit 1968 brauchen also Ihre Unterstützung.

Museumsdirektorin Dorothee Messmer hat über Ostern (sic!) einen Hasen gestrickt und lädt Sie ein, es ihr gleich zu tun. Die Anleitung dafür (die gerne modifiziert werden kann) können Sie auf unserem Blog DER LIFT.

Wühlen Sie in Ihrem Strickkorb, nehmen Sie Wolle und Nadeln zur Hand und schicken Sie uns nach getaner Arbeit ein Bild und/oder eine Geschichte Ihres bösen Hasen.

Wir posten sie alle auf Instagram und Facebook – auf dass sie sich analog zur Fibonacci-Reihe vermehren mögen…

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Werkbetrachtungen des Museumsteams­

Während dem Lockdown haben wir die Mitglieder unseres Teams gebeten, sich je mindestens ein Werk aus den temporär geschlossenen Ausstellngen auszuwählen, das sie dem Publikum in Erinnerung rufen und auf ihre ganz persönliche Art kurz vorstellen möchten.

Nachzulesen sind diese Werkbetrachtungen auf unserem Blog DER LIFT: