12.06. — 06.09.2020 | Dienstraum

Sonya Friedrich
I corvi della signora Palladino

Dienstraum #10

Die zehnte Intervention wurde von der Solothurner Künstlerin Sonya Friedrich (*1960) realisiert. Sie lässt eine Gruppe von Krähen ganz unterschiedlicher Anmutung auf fragilen Möbelstücken rasten, die schwerelos im Glaskubus zu schweben scheinen. Die geheimnisvolle, ebenso poetische wie skurrile Szene, die wie ein unter einer Glasglocke eingefrorener Ausschnitt aus einer anderen Realität wirkt, spielt mit Erfahrungen, die mit dem Ort ihrer Präsentation verbunden sind – mit dem Bahnhof als Ort des Transits, des Reisens und Träumens, des Wartens und Hoffens, aber auch als Ort der Begegnungen, der Abschiede und der kleinen Wunder.

Krähen haben landläufig ein eher schlechtes Image. Ihr «rabenschwarzes» Gefieder, ihre scharfen Krallen und spitzen Schnäbel, aber auch ihre Grösse wecken Ängste. Als Aasfresser werden sie mit dem Reich des Todes und der schwarzen Magie assoziiert. Kaum überraschend also, dass Krähen und Raben in fast allen Kulturen besondere mythische und symbolische Eigenschaften zugesprochen wurden. So verehrten sie etwa die Germanen als heilige Tiere, während die Auguren im antiken Rom aus ihrem Flug die Zukunft lasen. In der europäischen Literatur treten sie häufig in unheimlichen oder okkulten Kontexten auf, z. B. im Märchen «Die sieben Raben» der Gebrüder Grimm oder in Edgar Allan Poes Gedicht «The Raven» von 1845.  weiterlesen

Wie ornithologische Studien in jüngerer Zeit gezeigt haben, sind die weltweit verbreiteten Krähenvögel, zu denen auch die Häher, Dohlen und Elstern zählen, im Grundsatz friedliche, sehr soziale, überaus intelligente und verspielte Wesen, die entweder in dauerhaften Partnerschaften mit festen Revieren oder – als Singles – im umherziehenden Grossverbund leben. Sie verfügen über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, das ihnen etwa erlaubt, weiträumig versteckte Vorräte punktgenau wiederaufzufinden. Zudem zeichnen sie sich durch Fähigkeiten aus, die wir sonst wohl eher dem Menschen zuschreiben: Neugier, Lernvermögen, handwerkliches Geschick, Spieltrieb oder die Fähigkeit, Worte und Sätze zu imitieren und zu memorisieren. Krähen sind nicht nur die grössten Singvögel, sondern auch hervorragende Luftakrobaten. Sie beherrschen Loopings, Seitwärtsrollen, Schrauben, Sturzflüge, Purzelbäume, Überschläge und können sogar auf dem Rücken fliegen. Aus reiner Freude lassen sie im Flug Dinge fallen, um sie wieder aufzufangen, oder sie legen Steinchen auf Geleise der Bahn und ergötzen sich am Geräusch, wenn Züge darüberfahren.

Das vertraute Bild von Bergdohlen, die über schroffen Felsen kreisen, oder von Schwärmen von Saatkrähen, die sich auf einem frisch gepflügten Feld niederlassen, täuscht darüber hinweg, dass Krähen zunehmend auch im urbanen Umfeld heimisch sind und mit den Menschen nachbarschaftlich zusammenleben. – Auch Bahnhöfe werden von Vögeln aller Art bewohnt oder für eine Rast vor dem Weiterflug genutzt; wer sich einmal bewusst darauf achtet, sieht bekannte Orte möglicherweise plötzlich mit anderen Augen. Die von Sonya Friedrich für den Dienstraum entwickelten Krähenvögel sind aus Papier und Naturmaterialien geformt, sowie mit Gummi, Pet und Farbe gestaltet. Neben schwarzen, braunen und weissen Tieren leuchten einige im Neon-Gelb der Schutzwesten der Bahnpolizei. Sie sind schon von Weitem zu sehen und suggerieren: «Achtung! Mit uns ist zu rechnen.»

Die Auseinandersetzung mit der Natur zieht sich als roter Faden durch die künstlerische Arbeit von Sonya Friedrich; bisher galt ihr Interesse indes eher der Flora als der Fauna. Eine wichtige Rolle in ihrem Schaffen spielen auch das Handwerk und der differenzierte Umgang mit unterschiedlichen Materialien. Die Liebe zum Holz wurde ihr als Spross einer Schreinerfamilie in die Wiege gelegt. Im Dienstraum sticht die Sorgfalt ins Auge, mit der die Vögel und die fragilen Möbel gefertigt sind. Friedrich hat einen Tisch, einen Biedermeierstuhl und zwei «Taburettli» in Originalgrösse aus Pappelholz nachgebaut und der vertrauten Form so Eleganz und Leichtigkeit verliehen. Damit unterstreicht sie die Beweglichkeit als essentielle Qualität von Möbeln (von. lat. «mobilis» = «beweglich, leicht zu bewegen») und lädt die Betrachtenden zur Reflexion über alltäglich (auch unterwegs oder im Bahnhof) genutzte Gegenstände ein.

Möbel sind objektartige, zweckgebundene Elemente oder Körper im Raum. Als gestaltete, funktionale Bestandteile prägen sie sowohl architektonische als auch landschaftliche Räume, ohne in diesen fest verankert zu sein. Möbel gehören somit zur «Fahrhabe», gewissermassen zum «Reisegepäck» der Menschen. Konzipiert als stille Diener derselben, lösen sie in der Regel standardisierte, kulturell erlernte Handlungsmuster aus. Von der Norm abweichende Nutzungen oder Aneignungen irritieren – insbesondere im öffentlichen Raum – und ziehen nicht selten Sanktionen nach sich.

In der Installation «I corvi della signora Palladino» von Sonya Friedrich führen die Möbel ein Eigenleben. Sie setzen sich über die ihnen zugedachte Rolle hinweg und schweben – wie von Zauberhand erhoben – zwischen den Krähen in der Luft. Der Anblick dieser Szene ruft Geschichten und Märchen in Erinnerung, die von Magie und Zauberei erzählen. Tatsächlich ist Sonya Friedrich in Zusammenhang mit ihrer Arbeit für den Dienstraum Olten auf die Geschichte der Italienerin Eusepia Palladino, gestossen. 1854 in der Nähe von Bari geboren, soll Palladino schon als kleines Mädchen die Gabe gehabt haben, Möbelstücke in die Luft steigen zu lassen, ohne diese zu berühren. Ihre geheimen Kräfte wurden von Wissenschaftlern untersucht und bestätigt, blieben aber unerklärlich, faszinierend und geheimnisvoll.

Krähen, Möbel und Magie finden im Werk von Sonya Friedrich für den Dienstraum Olten auf überraschende Weise zusammen und regen die auf die Rolle der Betrachtenden verwiesenen Menschen dazu an, über das Verhältnis von Natur und Kultur, über die Kraft der Imagination oder über das Potenzial und die Grenzen menschlichen Erfindungsgeistes nachzudenken.

Kuratiert von Katja Herlach

Blick ins Atelier

Aus Anlass der Ausstellung besuchen wir die Künstlerin auf unserem Blog DER LIFT virtuell in ihrem Atelier. Es interessiert uns, woran sie gerade arbeitet, was sie beschäftigt und wie sie ihre Arbeit strukturiert. Kuratorin Katja Herlach hat der Solothurner Künstlerin bei den Vorbereitungen über die Schulter geschaut, ihr ein paar Fragen gestellt und sie gebeten, uns mit Wort und Bild Einblick in ihre Arbeitsstätte und die Entstehung ihrer neusten Arbeit zu geben.

> Hier geht's zum Ateliereinblick

Künstler*innen

Sonya Friedrich (*1960)

Sonya Friedrich ist in Grossaffoltern BE aufgewachsen. Ihr Vater war Schreiner und weckte in ihr das Interesse für alles Handwerkliche. Nach der Ausbildung zur Werklehrerin am Lehrerseminar Thun begann sie ihre Lehrtätigkeit. 1994 erwarb sie das Fachpatent Zeichenlehrerin. Prägend wurde eine einjährige Reise durch Indonesien, Thailand und Nepal. Hier lernte sie eine den heutigen westlichen Werten entgegengesetzte Mentalität kennen, die sie tief beeindruckte. Seit 1992 arbeitet Sonya Friedrich als selbstständige Kunstschaffende in Solothurn. Untersuchungen zum Thema Leichtigkeit, Transparenz, Fragilität und Schweben prägen ihr Schaffen, ebenso die Botanik und die Literatur. Ihre Bildsprache bewegt sich zwischen handwerklicher Perfektion und einem verspielten, spontanen Ausdruck.

Mit Olten ist die Künstlerin seit vielen Jahren verbunden. Im Kunstmuseum Olten zeigte sie an der vom Kunstverein Olten organisierten Jahresausstellung der Solothurner Künstler*innen 2011 ihre erste installativ-plastische Arbeit: ein transparentes Häuschen in der Grösse eines Schrebergartenhäuschens («Ich möchte wieder Ziegen hüten, hanami= japanisch Blüten betrachten», 2011). Einige Hundert «objets trouvés» (Samenkapseln, Rindenstücke, Steine, Schneekugeln, Devotionalien, Spielsachen oder Trinkgläser usw.) aus der Kollektion der leidenschaftlichen Sammlerin waren darin wie in einem Setzkasten präsentiert. 2012 realisierte die Künstlerin die Kunst und Bau-Arbeit «Lindenblüten» für den Lichthof des Kantonsspitals Olten.

Website der Künstlerin

Sonya Friedrich auf Wikipedia